Als alle anderen Mädels sich zwitschernd auf ihre Zimmer verzogen, blieb Clarissa einfach sitzen. Ihre nackten Arme ruhten wie abgetrennt auf den Lehnen des Ledersessels, der blonde Pagenkopf dazwischen in leichter Rechtsdrehung fixiert, der viel zu schlanke Körper nur sein entbehrlich wirkender Fortsatz.
Ich ahnte, was jetzt kommen würde: Eine weitere mit fadendünner Stimme vorgetragene fadenlange Beschwerde über die Heimatlosigkeit des Model-Daseins und wie sie doch jetzt in ihrer Küche in Kamschatka sitzen sollte, bei Mutter und Schwester, über ein Chemiebuch gebeugt wie andere 17-jährige, anstatt hier in der Bar des Ritz-Carlton am Central Park, ausgelaugt nach unserem achtstündigen Shooting für comme-des-garçon… Wie mich das und mein abgenutztes Mitleid langweilte! Warum sie sich mich für ihre endlosen Klagegesänge ausgesucht hatte, wusste ich nicht. Ich war ihr ansonsten gleichgültig, sie schien weder Trost noch Ermunterung zu erwarten. Ich überlegte fieberhaft, mit welcher Anekdote aus meinem langen Modefotografen-Leben ich die Sache noch stoppen könnte, da schlug die Schwingtür auf und ein Trapper kam herein, durchquerte den bis auf unseren Tisch leeren Raum, trat an die Bar, legte seine Fellmütze darauf ab, drohte dem Glatzkopf hinter dem Tresen mit einem geknurrten „Whiskey!“ und wandte sich, während der Keeper einschenkte, zu uns um. Lederhemd mit Fransen, Lederhose, Lederstiefel, von wildem Bart umwuchertes Ledergesicht – kein Zweifel, ein Trapper! Kurz nach Mitternacht mitten in NY! Ohne sich umzudrehen, griff er sich das Glas, marschierte auf uns zu und warf sich ächzend in den freien Sessel an unserem Tischchen.
Mich würdigte er keines Blickes, starrte nur Clarissa an, deren Porzellanaugen – sonst fotogen verhangen – jetzt weit aufgerissen waren.
„What’s your problem?“ grunzte er und zog einen Zigarillo aus seiner Brusttasche.
Zwischen Clarissas aufgeworfenen Lippen kam anstelle einer Antwort nur ein schwacher Pfeifton hervor, als würde ihr anorexischer Brustkorb von einer Riesenfaust zusammengequetscht. Der Trapper schlug ein Bein über, strich ein Zündholz an der Stiefelsohle an und entzündete den Zigarillo.
„Excuse me, Sir,“ wagte die Glatze, „smoking is prohibit…“
„Shut your trap“, kam es grollend aus dem Bartgestrüpp. Und, an Clarissa gewandt: „So, speak up!“
„No problem, Sir,“ hauchte sie.
„Too bad. Mighta been able to help you.“
„Please, go away!“ Unter Clarissa Achseln bildeten sich kleine Seen auf dem Polster.
„Nah, I’ll sit this through,“ sagte der Fremde und hielt der Kleinen die Pranke mit dem Zigarillo vors Gesicht. „Have a smoke.“
Clarissa schien erst protestieren zu wollen, nahm ihm das qualmende Ding aber dann doch ab und führte es an die zitternden Lippen.
Ich war viel zu fasziniert um einzugreifen und sah zu, wie Clarissa zaghaft den Rauch einsog. Sofort veränderte sich ihr Gesicht, die Angststarre zerfloss in ein breites Grinsen und mit ungekünstelter Geste strich sie sich die Haare aus der Stirn. Dann fing sie an, mit klarer Stimme ein russisches Lied zu singen und zum ersten Mal sah ich, wie schön sie war.
Der Alte wandte sich zu mir und nickte.
„See how easy it is to make a girl happy?“ sagte er, schrumpfte auf seinem Sessel zu einem Biber zusammen und flitzte aus der Bar hinaus auf die Straße und dann sicher weiter in den Park, während Clarissas Gesang immer beseelter erstrahlte, der Glatzkopf hinter seinem Tresen gläserkrachend in Ohmacht fiel und ich in Ruhe meinen vierten Feierabenddrink leerte.