ANGST

Wie kann ein von unzähligen Margaritas, Whiskey Sours und Vodka Lemons ebenso wie von einer lebenslangen Kette von furchtlosen Entscheidungen so gut geöltes Gehirn wie seines in solche Lähmung verfallen? Als wäre ein Sturm, den er nur bisher nicht bemerkt hatte, plötzlich erstorben, hingen die Segel seiner Gedanken völlig erschlafft in der Synapsentakelage. Selbst die Worte des Protests, die angesichts dieser unmöglichen, inakzeptablen Situation mehr als angebracht waren, bildeten sich nur pflichtgemäß und verschämt.

Der Fluss, dieses Meer von einem Fluss, strömte leer und gleichgültig an ihm vorüber. Das Röhren des 200 PS Außenbordmotors hatte sich schon lange in der Weite verloren, nur noch ein leises Plätschern war zu hören, das Kreischen, Rufen, Wispern, Zwitschern all der unsichtbaren Tiere im Dschungel hinter ihm und ein stetes tiefes Brummen, das vielleicht von den ungeheuren Wassermassen kam, die sich vor seinen Augen vorbeischoben und ihnen keinerlei Anhaltspunkt boten.

Mario blickte an sich hinab. Seine nackten, fast zierlichen Füße, die so gar nicht zum Rest des massigen Körpers passten, sanken immer tiefer in den Uferschlamm. Darüber feiste, ebenfalls nackte Waden, baumdicke Schenkel in der kurzen Outdoor-Hose, das an Bauch und Brust klebende, völlig durchnässte Khakihemd, diese ganze ungeliebte aber vertraute Aufhäufung von groben Knochen und sehr viel Fleisch – jetzt völlig fremd und sinnlos.

Er war doch nur zwei Meter vom Wasser weg an den Rand des grünen Chaos, der sich Regenwald nennt, gegangen, hatte sich zwischen ein paar fleischigen Blättern und feuchten Stämmen durchgequetscht, sich hingehockt um sich zu erleichtern (explosionsartig, dünnflüssig und ekelhaft stinkend wie schon seit Tagen), hatte das gleichmäßige Blubbern des Motors gehört… Und plötzlich sein mechanisches Raubtierbrüllen, und als er aufsprang, war das Speedboot schon weit draußen im Strom, schoss knallend über die kurzen Wellen und war nach wenigen Minuten vom Urwald verschlungen.

Der Himmel war von dichtem Grau in allen Schattierungen bedeckt, die Luft stand reglos und dickflüssig, es war unerträglich heiß, an Marios Leib strömte der Schweiß herab und doch war ihm kalt. Er war mit den besten Absichten gekommen. Um 1.400 ha Wald vor der Abholzung, den unersättlichen Ölfirmen, den Pharmapiraten zu retten, würde die Summe, die er investieren wollte reichen, hatte man ihm gesagt, vielleicht sogar für mehr. Er war auf alles gefasst gewesen – widerspenstige Behörden, Bestechungsforderungen, schlechtes Essen, billigen Schnaps, Moskitoqualen, auch auf den Durchfall. Aber darauf, mitten in dieser Hölle einfach ausgesetzt zu werden, ohne Wasser, ohne Nahrung, ohne Telefon, ohne Waffe und ohne sein wasserdicht verpacktes Insulinspritzbesteck – darauf nicht.

Das bisschen Dämmerung, das diese Weltgegend hergibt, war rasch aufgebraucht. Jetzt war es Nacht. Die Schwärze füllte sich mit immer rätselhafteren Geräuschen. Es gab nichts, was Mario tun konnte. Außer das enge Gehäuse seines Körpers zu öffnen, bis er schließlich eins war mit allen Geistern des Waldes, mit seiner Angst, mit dem Himmel über ihm, dem unsichtbaren Fluss vor ihm, mit dem, was er kaufen und somit retten wollte. Vielleicht würde es jetzt ihn retten.