So sauber und duftig hat sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Vielleicht nicht mehr seit der Zeit, als Tante Lisbeth sie jeden Samstagabend in die Wanne beordert und eigenhändig abgeschrubbt hatte. Tante Lisbeth, die nach den paar Wochen, die Ulrike in ihrem Haus am Wald verbringen durfte, einfach verschwunden war als hätte das kleine Krokodil mit dem roten Samtjäckchen sie gefressen, das jede Nacht unter dem bodenlangen Vorhang in Ulrikes Zimmer hervorgrinste. Jedenfalls hatte sie sich nie mehr gezeigt, in keinem der Heime, in denen Ulrike den nebligen Rest ihrer Kindheit und ihre noch nebligere Jugend verbracht hatte. Und natürlich auch später nicht, während der Ausbildung zur Säuglingsschwester. Vielleicht war das auch gut so. Es geht wirklich keinen was an, und erst recht nicht Tante Lisbeth, dass sie die Schwesternschule nach einem halben Jahr verlassen musste. Konnte sie was dafür, dass sie die Berechnung von Wachstums- und Gewichtszunahmekurven einfach nicht verstand? Wozu braucht man so was? Wenn man liebt! Und keine, aber wirklich keine von den anderen Mädchen hat die Kinder so geliebt und so verstanden wie Ulrike.
Sauber, duftig, bereit für den morgigen Tag, der alles ändern wird.
Bevor sie sich auf den Stuhl am Fenster setzt – ihren Ausguck siebzehn Stockwerke hoch über den Rasenflächen, Plattenwegen, Mülltonnenhäuschen und dem Parkplatz – lässt sie ihren Blick noch einmal durchs Zimmer wandern. Alles wie es sein soll. Da das Bettchen, über dem das Mobile mit den bunten Äffchen baumelt, da das Windelpaket neben dem Wickeltisch, auf dem Regalbrett darüber die Batterie von Fläschchen, Cremes, Schnullern, Feuchttüchern… Über das Dreirad, die Sprechpuppe und den stabilen, aber leichten Schulranzen muss sie lächeln. Aber welche junge Mutter übertreibt nicht in ihrer freudigen Vorsorge? Das ist nicht schlimm. Nichts ist mehr schlimm. Johanna kann kommen, sie wird kommen.
Dass sie Johanna heißen muss, weiß sie einfach. Dass es ein Mädchen sein wird sowieso.
Der Abendhimmel über der großen Stadt ist zu ihrem Empfang ganz mit leuchtendem Orange bemalt. Als es dunkler wird, glimmen unten die Laternen auf. Wie still und friedlich das von hier oben aussieht!
In der Spiegelung der Scheibe werden ihre ordentlich gescheitelten Haare, straff nach hinten über die zu großen Ohren gekämmt, die bleistiftdünne Nase, das große, feuerrote Mal, das unterhalb des Auges fast die ganze rechte Gesichthälfte überzieht, immer deutlicher. Ulrike steht auf und streicht sich die Bluse über ihrem flachen Bauch zurecht.
Unten biegt endlich der weiße Toyota auf den Parkplatz. Nun sind sie also zurück von der Entbindungsstation, die Leute aus dem achten Stock. Ulrike hat sich dort natürlich telefonisch nach dem Entlassungstermin erkundigt. Der Mann steigt aus, geht zur anderen Tür und hilft der Frau beim Aussteigen. In den Armen hält sie ein dickes Bündel. Dann nimmt er eine Tasche vom Rücksitz und die beiden gehen mit der neugeborenen Johanna Richtung Eingang.
Eine Nacht wird Ulrike noch allein sein müssen. Aber morgen, morgen wird sie sie sich holen.