Es gab sie, diese Abende, wo man „sich ein wenig gehen ließ“. In dem über 70 Seiten starken Regelwerk, das Faye, wie alle anderen, unterschrieben hatte, waren sie natürlich strengstens untersagt, aber die Einhaltung gerade dieser Bestimmungen wurde nur sehr lax überwacht. Entweder glaubten die Projektleiter der NASA, die Astronauten würden gar nicht auf die Idee kommen, während des harten Trainings ihre Kondition und damit die Teilnahme an der Mission durch Besäufnisse zu gefährden, oder sie verhielten sich wie die Lehrer eines Eliteinternats, die, in Erinnerung an ihre eigene Jugend, einfach wegsehen, wenn ihre Zöglinge am Wochenende ausschwärmen und die umliegenden liquor-stores und Bars leertrinken.
Jedenfalls war „Alice’s Bar & Diner“ in diesem Dreckskaff Picayune, nur wenige Meilen vom Stennis Space Center entfernt gelegen, auch an diesem frühen Samstagabend ganz gut besucht von ein paar staubigen Farmern und eben von einer Handvoll Männern in auffällig leutseliger Kleidung. Diese Männer hatten sich, wie schon seit Monaten, die ganze Woche über dem äußerst straffen Programm unterzogen, mit dem sie auf ihren Flug zur Weltraumstation vorbereitet wurden.
Eine Handvoll Männer und eine Frau, um genau zu sein.
Fadoua, Tochter eines jemenitischen Einwanderers und einer Ostküsten-Protestantin, wurde von allen nur Faye genannt. Natürlich war sie aufgrund ihrer Herkunft einer besonders gründlichen Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden. Aber das Ergebnis war eindeutig: Fadoua, die brillante Physikerin mit dem reizvoll orientalischen Look und dem Princeton-Abschluss, war durch und durch Amerikanerin – ohne jede Verbindung zum Land, zur Kultur und zum Glauben ihres Vaters, der sich im Übrigen schon kurz nach ihrer Geburt aus dem Staub gemacht hatte.
Es war Fayes erster Ausflug in die billige Kneipe, in die schon Generationen von Weltraumhelden aus ihrer durchgeplanten Welt geflohen waren, um wenigstens eine Ahnung des Lebens außerhalb der Trainingseinheiten, der Simulatoren, der endlosen Briefings zu behalten. Morgen würde sie mit Maurice, Günther, Kenneth und David jr. im Shuttle sitzen, hinauskatapultiert aus dem Zugriff der Erdenschwere von einer der mächtigsten Maschinen, die Menschengeist je ersonnen hat. Der Abschied vom Mutterplaneten musste begossen werden, darauf hatten die anderen bestanden. Wenn sie sich weigerte, hatten sie ihr scherzhaft gedroht, würden sie sie in der Enge der Station mit den Zoten foltern, von denen sie wussten, wie sehr sie Faye damit in Verlegenheit bringen konnten.
Sie nippte an ihrer „Zero-Cola“ und beobachtete die anderen, wie sie den alten Flipperkasten malträtierten, wässriges Budweiser in sich reinschütteten und versuchten, so zu tun, als wären sie nichts als ein Haufen von Truck-Fahrern die sich zufällig an diesem gottverlassenen Ort getroffen haben. David jr., der muskelbepackte Biologe aus Alabama, bedachte die teiggesichtige Barfrau mit einem Feuerwerk aus schamlosen Anmachsprüchen. Er betatschte sie, sie lachte, zog schließlich mit grell bemalten Fingernagellanzen ihr Top herunter und entblößte ihre zu aggressiver Straffheit operierten Brüste.
Das also war die Welt, das waren die Menschen, die diese scheinbar so überlegene Zivilisation hervorbrachte? Die wissenschaftliche Elite und der gesellschaftliche Abschaum vereinigt im lust-kreischenden Mord an allem, was die Würde des Menschen – bei Mann wie Frau – ausmacht? Die Würde, die Allah ihm verliehen hat und die er sich bewahren kann und muss, indem er seine Gebote befolgt, wie er sie dem Propheten, gepriesen sei sein Name, in einem Akt unfassbarer Gnade übermittelt hat.
Man muss nicht in Kairo, Karachi oder Sanaa aufgewachsen sein, um zu begreifen, dass es so nicht weitergehen kann. Gesegnet die Frau, die – trotz lebenslanger Indoktrination durch die Mächte des Bösen – erkannt hat, dass nur die Reinheit des Islam in der Lage ist, den galoppierenden Verrottungsprozess aufzuhalten. Der Tag wird kommen, an dem das Wehklagen über den „islamistischen Terror“ umschlagen wird in den Jubel darüber, dass es genügend selbstlose Märtyrer gegeben hat, die bereit waren, ihr Leben zu opfern, um der einzigen Antwort auf alle Fragen des Daseins zum Triumph zu verhelfen! Dankbar wird ihrer gedacht werden, wenn endlich Satan besiegt und das Herz der Welt friedlich gemacht sein wird! Jeder kann, jeder muss dazu beitragen, auf dem Platz, den Allah ihm zugewiesen hat.
Und Fadouas Platz war an Bord eines Gefährts, das wie kein anderes geeignet war, mit seinem Aufglühen das Licht der reinen Lehre über die ganze Welt zu verbreiten! Die ISS, dieses vielflügelige, glänzende Rieseninsekt, das in 350 Kilometern Höhe den geschundenen Planeten umkreist, war wie geschaffen dafür, die Botschaft der Rettung noch in den entlegensten Winkel zu tragen, und sie, Fadoua, würde das demütige Instrument sein, dessen Allahs unergründlicher Wille sich bedient.
Obwohl das widerwärtige Schauspiel der völligen Verderbtheit, das David jr. und die Barschlampe vor ihren Augen immer schamloser aufführten, ihr körperliche Übelkeit bereitete, musste sie lächeln. – Es war so einfach gewesen! Der Besuch eines entfernten Verwandten ihres Vaters – wie ruhig und klar er gesprochen hatte, welches Glücksgefühl die Ahnung einer geordneten, sinnvollen, verstehbaren Welt verursacht hatte! – dieser Besuch hatte genügt, den Stein der Wahrheit ins Rollen zu bringen und sie schließlich zu dem zu machen, was sie jetzt war: Das kunstvoll geschmiedete und mit wissenschaftlicher Präzision geschliffene Schwert des Propheten auf dem Weg zur Erfüllung seiner einzigen Mission: Das Licht vom Dunkel zu scheiden, die Flut des Verderbens zurückzudrängen mit der Flut des wahren Glaubens.
Nach dem Besuch aus der fremden Heimat intensives Koranstudium. Die weiterführenden Kontakte? Übers Internet. Die Planung, Abstimmung? Übers Internet. – Gepriesen sei Allah, dass er die technischen Errungenschaften der westlichen Welt auch Kämpfern und Kämpferinnen des Lichts zur Verfügung stellt!
Gepriesen sei er dafür, dass sie selbst in weniger als 14 Stunden mit ihren ahnungslosen „Kollegen“ im Spaceshuttle sitzen würde, unterwegs zu einem der größten Abenteuer, das je ein Diener des Ewigen, gepriesen sei sein Name, bestanden hat. Alles, was sie für ihre Operation brauchte, war schon dort oben und wartete nur darauf, von ihr einer höheren Bestimmung zugeführt zu werden. Ins Bewusstsein vieler Generationen würde sich das Bild der explodierenden Raumstation eingraben und dabei vielleicht sogar zwei Türme überragen.
Als gegen Neun Günther zum Aufbruch drängte, folgte Faye dem ruhigen Deutschen, der am wenigsten getrunken hatte, und stieg zu ihm ins Auto.
Günther wollte ihr unbedingt das neuste Lieblingsstück seiner Tochter vorspielen, beugte sich zum Handschuhfach um den iPod rauszukramen, dabei glitt ihm das Steuer aus der Hand, sein Honda geriet auf die Gegenfahrbahn und prallte frontal auf einen gigantischen Traktor. Günther war sofort tot, Fadoua, die alle nur Faye nannten, starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
Der Notarzt, der bei ihr im Rettungswagen saß, ein Dr. Fishburne, sah in ihrem Blick das Glück, das so viele der Sterbenden umgab, mit denen er zu tun hatte und das er merkwürdig fand angesichts der zerquetschten, verstümmelten Körper seiner Kunden.
Irgendetwas musste dran sein an dem Gerede von einem Drüben. Irgendetwas musste dran sein am Licht der Ewigkeit.
Fishburne gab auf und streckte sich. Das Sterben machte ihn durstig. Er freute sich auf sein Feierabendbier.