LEER

Alle hatten sich in Schwarz gekleidet. Was betrauerten sie? Wahrscheinlich die Tatsache, daß unter ihrer Haut nichts als ein paar Knochen und Organe waren, deren Anwesenheit nicht mehr darüber hinwegtäuschen konnte, daß sie inwendig leer waren.

Leer wie das Kinderherz, das gerade bemerkt hat, daß das Christkind eine unbegreifliche Erfindung der Eltern war, nicht aber der Lotse zur Glückseligkeit, als das es ihm vor der Enthüllung des Zaubertricks erschienen war; leer wie die Begehrlichkeit, die sie Ratenverträge mit der BMW-Bank abschließen ließ, um sich den neuen 3-er zuzulegen; leer wie der geklonte Schlaf nach erfolgreich durchgeführter Demonstration ihrer sexuellen Kraft und Aufgeschlossenheit; leer wie das Display ihrer Handys, wenn der Akkumulator im Memory(!)-Effekt entschlafen war; leer wie das halbherzige Grinsen über die Ernsthaftigkeit von Kriegsgegnern, Umweltschützern und Sozialromantikern; leer wie die Flasche Taittinger am Abend, von der man weiß, daß man sie morgen zwölffach ersetzen wird; leer wie die Erinnerung an die Bergbäuerin, die man nach einem harten Freeclimbing-Wochenende traf und die einem bei einem Glas frischer Kuhmilch vom vorzeitigen Tod ihrer ältesten Tochter erzählte; leer wie die Drohung, der Jahr-Zweitausend-bug, oder eine andere nostradamische Prophezeiung, könnte irgend etwas ändern an der Leere; leer wie die Augen der Comme-des-Garçon-Puppen in den Schaufenstern der ausgestorbenen Fußgängerzone, wenn man am Sonntag Morgen aus der Bar fällt, mit mindestens drei Gimlets zuviel im dünnen Blut; leer wie die Unterschiedslosigkeit zwischen APPLE-Macintosh und dem Dalai Lama – oder Richard Gere, wer kennt sich da schon aus?; leer wie der space, den irgend jemand unbegreiflicherweise einmal ‚cyber‘ genannt hatte; leer wie der Bulgari-Laden, nachdem man ihn im Traum leergekauft hat; leer wie der Lebenswille, nachdem die Verabredung zum Heli-Skiing in Boulder, Colorado, mit der man gehofft hatte, die Ostertage zu überstehen, in letzter Sekunde geplatzt ist (vielleicht lag es doch am falschen Parfüm?!); leer wie das Kinderbettchen, wenn die Unfall-Yvonne, der Unfall-Mark (oder wie man sonst das unbegreifliche Etwas getauft hatte, das ein Unfall war und doch auf abschüssige Weise wirklich zu sein schien) wegen Blutkrebs ins Krankenhaus eingeliefert worden ist; leer wie das Büro des Chefs, in das man sich nach Dienstschluß schleicht, um etwas zu finden, das endlich erklären würde, warum er trotz seiner Inkompetenz so erfolgreich war; leer wie der Blick des Türstehers vor der ‚Must‘-Disco und wie die erschlaffte Membran im Lautsprecher des Ohres, schon kurz nachdem man es geschafft hatte, an ihm vorbeizukommen; leer wie die Hoden nach einem Besuch auf einer Schmuddel-Page im Netz; leer wie ihnen die Historie bis zum heutigen Tag war; leer wie die Autoscooterbahn morgens um halb zwei, wenn man noch einen ‚romantischen Spaziergang‘ über den ausgestorbenen Rummelplatz macht; leer wie das Silberdöschen, das der ‚Freund aus Milano‘ auf dem Wohnzimmertisch vergessen hat, nachdem man bis zum Nasenbluten im weißen Pulver versunken war; leer wie das ‚O‘ von Gott in der alten Kinderfibel; leer wie die Eingangshalle der Bank in irgend einem Dorf auf der Fahrt zur sterbenskranken Mutter, wenn man mitten in der Nacht noch ein paar Hunderter braucht; leer wie das Zähneblecken des Harald Schmidt, wenn er seine Nürtinger Erbärmlichkeit wegzugrinsen sich bemüht; leer wie die Hand, deren Linien auf dem stufenlos regelbaren Kochfeld von Gaggenau verschmort wurden, als ‚eine‘ sie in einem ausnahmsweise unbegründeten Eifersuchtsanfall daraufgepreßt hatte; leer wie die ausgelaufene Hülle eines Brustimplantats; leer wie der Blick von Vertreibungsopfern, über die man versehentlich hinzappt um zu ganz viel, ja, mehr noch, zu jeder Menge Leben zu kommen; leer wie das Etui, das ‚doch gerade noch‘ die Giorgio Armani-Brille beschützt hatte, aber jetzt ist sie nicht mehr da, verflucht; leer wie der Himmel, aus dem Laika, die nette russische Hündin, 1957 in ihrem Sputnik verglühend auf die Erde zurückstürzte; leer wie der Lauf einer 45-er, bevor sie ihre schnelle, knochenbrecherische Antwort auf die Leere deines Gehirns gibt; leer wie das Gesicht des Innenministers, der seinen bübchenhaften Altmännercharme seit RAF Tagen dazu nutzt, vergessen zu machen, daß er in seiner ‚wirren Jugend‘ der NPD nahe stand; leer wie der Raum zwischen Beinen, die nicht anders können, als vorzugeben, sie wüßten, wohin sie gehen; leer wie die Toleranz den elegant gekleideten Afrikanern gegenüber, die als kosmopolitisch-erotischer Farbfleck unsere Bars bereichern, wenn wir später ihre Stammesbrüder Heroin an unsere Kinder verkaufen sehen; leer wie der Frauenmund, in den wir noch nicht unseren Samen verschwendet haben; leer wie der Magen des Trinkers, der schlüssige Selbstgewißheit ersehnt; leer wie jegliches Vergnügen an Zorn, Trägheit, Völlerei, Eitelkeit, Neid, Wollust und Gier; leer wie die Hoffnung, alles das möge eines Tages enden; leer wie das Grab des Auferstandenen.

So leer waren diese Körper, so groß war die Trauer darüber, daß alle übereingekommen waren, Schwarz zu tragen, wenn sie lachten, tranken, Austern aßen, über Gedenkstätten und Intendanznachfolger befanden.