GEBORGENHEIT

Ich bin mitten in der Sitzung abgehauen. Mayrökkers fetter Mund hatte gerade angefangen, sich mit heftigem Lippengereibe für einen seiner bleischweren Redemarathons aufzuwärmen, da hab ich die Kristallschale mit dem Weihnachtsgebäck an die Wand geschleudert, ‚Das hält doch kein Mensch aus, ihr Idioten!‘ gebrüllt, bin aufgesprungen, und raus. Hab noch nicht mal meine Tasche mitgenommen. Die müssen gedacht haben, ich bin verrückt geworden.

Es ist Dienstag der 2. Dezember, 16:35, es ist noch fast hell, und ich bin mit ausgeschaltetem Handy auf dem Weg zu meinem Voralpen-Zuhause, so früh wie noch nie. Mein A8 gleitet widerstandslos über die A8, trotz des heftigen Regens, der aus der Wolkenplatte direkt über meinem Kopf fällt. Merkwürdig, ich verspüre keinerlei Feindschaft gegen die Fahrer der anderen Autos.

Das kann mich den Job kosten, da kennen die nix. „CFO“. Als die Zentrale in Dallas mir vor 4 Jahren diesen Posten im deutschen Ableger angeboten hat (natürlich hab ich angenommen! Für 840.000 im Jahr plus Boni erträgt man vieles), hat der kleine Mayrökker mich in der Espresso-Lounge in „unserer“ Etage abgepasst, an beiden Ohren gepackt, meinen Kopf die 20 Zentimeter zu seinem Fischmaul runtergezogen und gegrunzt: „Wissen Sie eigentlich, was das heiß – CFO?“

„Chief Fiancial Officer – Finanzvorstand“, hab ich geantwortet, meine Stimme ganz kantig von der Anstrengung, meinen Brechreiz zu unterdrücken.

„Nee, Sie Einserschüler. ‚Can’t fuck me over‘, heißt das. Und ‚me‘, das bin in dem Fall ICH. Alles klar?“

Aber darum geht’s ja gar nicht. Es geht nicht um Mayrökker oder Blenske oder die anderen Vorstandskrüppel. Es geht um mich.

Diese Baustelle macht jetzt seit über einem Jahr meine Autobahnausfahrt zu einem quälenden Nadelöhr. Man sollte meinen, das wäre um die Uhrzeit noch nicht so schlimm. Ist es aber doch. Gestern noch hab ich mir gewünscht, ich hätte einen Granatwerfer um die ganzen anderen Blechkisten, die mir da täglich im Weg stehen, nach links und rechts wegzupoppen. Aber heute haben die beiden verschwommenen roten Lichter, hinter denen ich herkrieche, fast was Heimeliges.

Jetzt bin ich durch. Bin gespannt, was Moni sagen wird, wenn ich mitten am Nachmittag zu Hause auftauche. Oder ist Dienstag ihr Tarot-Tag?

Ich wusste von Anfang an, worauf unsere ganze „Philosophie“ basiert (tolles Wort in dem Zusammenhang!) – und worauf sie rausläuft: Öl! – Wir verheizen die Zukunft unserer eigenen Kinder und Enkel? Scheißegal, noch das letzte Ölschiefer- oder Ölsandvorkommen wird auf Ausbeutbarkeit untersucht, damit wir die Jahrmillionen alten Viecher durch die Kamine und Vergaser jagen und unseren Kontoständen beim Wachsen zusehen können. – Was hat mich gerade heute explodieren lassen? Rätselhaft.

Ist schon richtig dunkel jetzt. Die letzte Kurve, dann die Abzweigung in den früheren Wirtschaftsweg (die 25.000, die ich der Gemeinde fürs Asphaltieren gegeben habe, waren gut angelegt!), da seh ich schon unser Haus zwischen den kahlen Bäumen. Geschmackvoll, sagen alle. Groß für zwei Leute. Hell erleuchtet. Also ist sie da.

Irgendwas in mir fühlt sich warm an. Vielleicht kann ich mit Moni noch mal ganz von vorne anfangen. Was Einfaches. Weinbau. Weit weg von hier.

Ach Quatsch, die wird doch nie auf all das verzichten! Ich stampfe auf die Bremse. Kalter Schweiß auf der Stirn, die Hände zittern. „Sie haben eine riesen Wut in sich“, hat dieser hinterhältige Coach neulich auf dem Wochenend-Incentive in Colorado Springs gesagt. Kunststück! Bei der Frau! Für wen mach ich denn das alles?

Vielleicht tun sie auch so, als wär nichts gewesen, falls ich morgen einfach wieder auftauche. Jeder Zeigt mal Nerven.

Augen schließen, dreimal tief in den Bauch atmen.

Ich lass den Wagen wieder anrollen.

Am besten, ich sag ihr gar nichts. Hoffentlich hat sie was gekocht. Ich werd eine Flasche Barolo aufmachen und Chet Baker singen lassen. Vielleicht können wir später ficken.