FRIEDE

Der Zug steht schon seit einer halben Stunde im Licht des vollen Mondes. Das Land draußen ist genau so reglos und lässt sich willig von dem Silber überfließen: die weite Schneefläche, die kleine Baumgruppe, der halbverfallene Schuppen. Im Waggon wird es immer kälter. Manchmal ein gedämpftes Husten, ein Murmeln, ein Zurechtrücken auf einer Holzbank, sonst Stille.

Ich weiß nicht, wo wir sind. Vor zwei Tagen in Breslau eingestiegen – all die Frauen und Kinder, die Alten auf Koffern und Taschen in der eisigen Bahnhofshalle, all die Soldaten, Rotkreuzschwestern, Verwundeten, das Treibgut der Flucht und des Rückzugs, wartend auf die letzte Chance, der unaufhaltsamen Flut aus dem Osten zu entkommen. Mit Glück einen Platz im Zug erobert, die Fahrt durch die vielen Halte auf offener Strecke und an kleinen Bahnhöfen ein einziges Stolpern und Straucheln. Und jetzt hier.

Johanna schläft auf meinem Schoß in alle Kleider und Decken gewickelt, die ich noch habe, das Gesichtchen ein heller Fleck im Bündel. Ich spüre ihren Atem und weiß, dass sie noch lebt. Wie lange noch? Ich fühle mich so schwach. Wie lange werde ich noch Milch für sie haben? Werden wir jemals wieder in einem Haus wohnen? Wird sie in einem Garten spielen, zur Schule gehen, einen Mann lieben, selber Kinder haben?

Ich lege die Stirn an die Scheibe und blicke hinaus.

Und da ist er. Er kommt hinter dem schneebedeckten Schuppen hervor und bewegt sich ruhig und beständig auf mich zu. Sein Leuchten überstrahlt das Mondlicht und wird mit jedem Schritt heller. Zehn Schritte vor dem gestrandeten Zug bleibt er stehen und hebt die rechte Hand. Ein Strahl von Wärme trifft mein Gesicht und füllt mich völlig aus, trägt mich hinaus aus allem Elend. Johanna regt sich. Ich blicke hinunter zu ihr. Ihre Augen sind geöffnet und sehen mich an, ein Lächeln der Seligkeit liegt auf ihren kleinen Lippen. Wir werden leben.

Als ich wieder aufblicke, ist der Mann verschwunden.